Mittwoch, 10. November 2010

"Gedenken 3000 – Was fehlt der Kunst von heute?" Binas Schlingensief-Gedenkaktion in der Volksbühne


In Gedenken an den am 21. August 2010 im Alter von 49 Jahren verstorbenen Aktionskünstler und Regisseur Christoph Maria Schlingensief. Eine Aktion von Bina.




Samstag, 6. November 2010, 20 Uhr in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin.
Die Volksbühne hatte Freunde, Kollegen und Fans Christoph Schlingensiefs zur großen Gedenkfeier geladen.


Freier Eintritt, eine reich gedeckte Tafel und Programm im ganzen Haus lockten die 2000 Besucher, die Bier, Wein oder auch Speisen mitbrachten und dem Buffet hinzufügten und sich zeitweilig an den diversen Plätzen der Darbietungen sammelten, um sich dann wieder im Getümmel zu verlieren und durch die Gänge zu strömen.


Der Intendant Frank Castorf hatte die Veranstaltung eröffnet, mit ihm erinnerten sich viele Weggefährten Schlingensiefs an die Begegnungen und die Zusammenarbeit mit ihm.
Gezeigt wurden Fernsehberichte, Videos von Theaterproben, Ausschnitte seiner Werke und Aufnahmen aus seiner Kindheit. Jeder Winkel der Volksbühne bot entweder Photowände oder Monitore, auf denen der geniale Aktionskünstler und Regisseur Schlingensief zu sehen war. Der Afrikabereich war seinem letzten Großprojekt, dem Operndorf in Burkina Faso gewidmet.

Im 1. Stock linksseitig des Sternfoyers mit dem großen Buffet befand sich der “rote Salon“ – nun “Club 69“ genannt, in Anlehnung an ein Privat-Kino, das Schlingensief in den 80ern unterhielt – gegenüber dessen Eingang im Gang positionierte ich mich auf bzw. neben einem Sessel, um gegen 22:45 Uhr meine Aktion zu starten. Wie sich zeigen sollte, war der Ort gut gewählt, wenn auch etwas zu dunkel für vernünftige Filmaufnahmen.


Ich baute Farben, Pinsel, Papiere und Klebeband vor mir auf und begann damit, die Frage zur Aktion aufzuschreiben:
Was fehlt der Kunst von heute?
Diese klebte ich an die holzvertäfelte Wand und suchte mir dann meine ersten Teilnehmer in der Masse.

Ich sprach die Leute an, ob sie nicht eine Antwort auf die Frage hätten und diese zu Papier bringen wollten. Diese Din A4 Papiere befestigte ich dann mit Klebeband an der Wand und an den benachbarten Papieren, sodass schließlich ein ganzer Wandteppich aus den einzelnen Blättern entstehen sollte.

Nachdem erstmal der Anfang gemacht war, ging es recht gut voran und so Mancher machte sich ernsthafte Gedanken, was er denn auf diese Frage antworten könnte oder sollte, einige waren wohl um eine besonders kluge Idee bemüht, andere schrieben einfach ihre spontanen Eingebungen nieder oder betätigten sich künstlerisch und malten Bilder oder Symbole.

Obwohl mehrere Security-Leute und Verantwortliche an uns vorbeiliefen und neugierig zuschauten, griff tatsächlich niemand ein oder meckerte.
Dafür ein Dank an die Volksbühne, die der Aktionskunst gegenüber wirklich offen zu sein scheint.

Einigen Besuchern fiel gar nichts auf die Frage ein, aber es geschah auch, dass sich ein paar Leute von alleine die Pinsel schnappten und losmalten, während ich noch eines der Papiere an die Wand hängte. Viele Teilnehmer der Aktion entsprachen interessanterweise dem Bild des typischen Studenten der Kunstgeschichte oder der Theaterwissenschaft mit Turnschuhen, Schal und eckigem schwarzen Brillengestell.

Viele Leute gingen vorbei und warfen flüchtige Blicke auf das Geschehen und den Wandbehang, andere hielten inne und lasen interessiert, was bereits für Antworten gegeben wurden, ein Herr philosophierte minutenlang mit mir über die Bedeutung und die Gewichtung der gegebenen Antworten.

Je später der Abend wurde, umso mehr machte sich der erhöhte Bier- bzw. Weinkonsum bemerkbar. Aber auch die Reizüberflutung und die vielen Eindrücke der Gedenkfeier trübten gegen Mitternacht die Aufnahmefähigkeit. Zuletzt kam noch ein gut gelauntes Pärchen zu mir und anstatt die Farbe auf des Papier aufzutragen, beschmierte sich zuerst er und dann sie ihre Lippen mit dem Pinsel und drückten dicke Kussmünder aufs Papier, in rot und in grün.


Am Ende war ein echtes Kunstwerk an der Wand entstanden.
Ich hängte es ab, faltete es zusammen, packte alles ein und verließ gegen 00:30 Uhr die Party, zu der es sich dank des DJs im Foyer mittlerweile entwickelt hatte. Die Tafel war restlos geplündert und neben den leeren Weinflaschen auf dem Tisch fand man unermüdliche Gestalten, die alle sofort bei Schlingensiefs Freakstars 3000 hätten auftreten können.

Mein Fazit: eine gelungene Gedenkfeier für den großen Künstler Schlingensief, die ihm sicher gefallen hätte und eine gelungene Aktion, die ich natürlich auch zu seinen Ehren veranstaltet habe – und es macht mich ein wenig stolz, dass ich die einzige unautorisierte Akteurin dieses Abends war und ich mich somit nun wirklich im Geiste Schlingensiefs und seiner Aktionen betätigt habe...

Links zur Gedenkfeier:
http://www.popkontext.de/index.php/2010/11/07/gedenken-3000-fur-christoph-schlingensief-am-6-11-2010-an-der-volksbuhne-berlin


http://www.tagesspiegel.de/kultur/volksbuehne-erinnert-an-christoph-schlingensief/1977014.html

http://www.morgenpost.de/kultur/article1444562/Volksbuehne-verabschiedet-sich-von-Schlingensief.html

http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1064864